Eklat um Brosius-Gersdorf belastet Koalition: „Dann ist das Schiff in schwerer See“

Die umstrittene Potsdamer Juristin Frauke Brosius-Gersdorf.
Quelle: Britta Pedersen/dpa
Der Tag, an dem die schwarz-rote Koalition ihren ersten großen Krach aufführt, beginnt um 8 Uhr mit der Sondersitzung der Unionsfraktion. Es wirkte im Vorfeld so, als wolle Fraktionschef Jens Spahn seine Fraktion im letzten Moment disziplinieren, als wolle er doch noch die Mehrheit für die vom Koalitionspartner SPD zur Richterin am Bundesverfassungsgericht nominierte Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf zusammenbekommen.
Doch davon ist keine Rede mehr. Bereits um 8.05 Uhr schickt Spahn eine Kurznachricht an SPD-Fraktionschef Matthias Miersch. Um 8.06 Uhr dann eine weitere SMS von Bundeskanzler Friedrich Merz an Vizekanzler Lars Klingbeil. Man wolle den Wahlvorschlag Brosius-Gersdorf zurückziehen. Gegen sie gebe es einen Plagiatsverdacht. Eine angehende Verfassungsrichterin müsse „über jeden Zweifel erhaben“ sein.
Zweifel an der 54-jährigen Potsdamer Jura-Professorin wurden in den vergangenen Wochen immer wieder gesät, von interessierten Kreisen. Von der AfD, von rechtspopulistischen Medien, von katholischen Bischöfen und dann immer stärker aus der CDU. Grundlage waren Talkshow-Auftritte, Festschriften, Kommentare. Brosius-Gersdorf wolle die AfD verbieten, Ungeimpften die Grundrechte entziehen, ungeborenen Kindern die Menschenwürde verweigern, befürworte sogar Abtreibung bis zur Geburt. Das war entweder verkürzt, überspitzt oder im letzteren Fall gar böswillig falsch. Aber es wirkte, auch weil die SPD zwar an der Kandidatin festhielt, sie sich aber nicht erklären ließ.
Morddrohungen und schwere Enttäuschung
Die „Plagiatsvorwürfe“ stammen von dem umstrittenen Österreicher Stefan Weber, der am Freitag klarstellt, dass er das Wort „Plagiat“ in diesem Fall nicht verwendet hat. Er hat sich die 1997 veröffentlichte Doktorarbeit von Brosius-Gersdorf und die 1998 veröffentlichte Habilitationsschrift ihres Ehemanns vorgenommen und 26 teils wortgleiche Stellen gefunden. Beide schrieben zu einem ähnlichen Thema. Ob und wie stark das Akademikerpaar beim Schreiben dieser Arbeiten voneinander profitierte, ist völlig unklar.
Dadurch, dass die Union Webers Vorwürfe zum Anlass nimmt, von der SPD-Kandidatin abzurücken, zieht sie aber nicht nur ihre Reputation, sondern auch die ihres Ehemanns in Zweifel.
Weder Brosius-Gersdorf noch ihr Ehemann wollen mit der Presse sprechen. Aus ihrem Umfeld ist von Beleidigungen und Morddrohungen zu hören - und von einer tiefen Enttäuschung über die politisch Verantwortlichen, die sie in die aktuelle Lage gebracht haben. Aus der SPD verlautet, man habe sie bestärkt, an der Kandidatur festzuhalten.
Der Bundestag entmachtet sich selbst
Der Bundestag sollte an diesem Freitag eigentlich drei Richter wählen. Zunächst den CDU-Vorschlag Günter Spinner und dann die von der SPD nominierten Ann-Katrin Kaufhold und Brosius-Gersdorf. Doch die Sitzung wird unterbrochen, SPD und Grüne ziehen sich zu Fraktionssitzungen zurück.
Um 11.30 Uhr soll es weitergehen. Zuvor sickert durch: Heute wird nicht mehr gewählt. Keiner der drei Richter. So kommt es dann auch. Der Bundestag hat sich in dieser Frage selbst entmachtet.
Grüne und Linke: Spahn ist schuld
Eine kurze Geschäftsordnungsdebatte zeigt die tiefen Gräben, die bereits durch die Koalition laufen. Applaus gibt es aus der SPD-Fraktion für die Rede der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann. „Es ist ein schlechter Tag für das Parlament, ein schlechter Tag für die Demokratie, und ein schlechter Tag für das Bundesverfassungsgericht“, ruft sie. Insbesondere Spahn habe dabei versagt. „Es ist Ihre Unfähigkeit als Fraktionsvorsitzender“, sagte Haßelmann. Gemeinsam mit SPD-Fraktionschef Matthias Miersch habe Spahn drei gemeinsame Wahlvorschläge eingereicht und sei damit für alle drei mitverantwortlich.
Der SPD-Abgeordnete Ralf Stegner kommentierte das später in der Cafeteria mit den Worten: „Wir sind ja keine Kastraten.“ Wenn man noch einen Funken Ehre habe, dann habe man nur bei der eigenen Rede und der von den Grünen klatschen können.

„Ein schlechter Tag für das Parlament, ein schlechter Tag für die Demokratie": Grünen Fraktionschefin Britta Haßelmann redete sich am Bundestagspult in Rage.
Quelle: IMAGO/Political-Moments
Linken-Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek attackierte Spahn ebenfalls mit bissigen Worten: „Sie betreiben parteipolitische Machtspielchen und sorgen erneut für absolutes Chaos. Noch nicht einmal 100 Tage im Amt, Chapeau, das haben vor Ihnen wirklich wenige geschafft.“
Sie betreiben parteipolitische Machtspielchen und sorgen erneut für absolutes Chaos
Heidi Reichinnek, Linken-Fraktionsvorsitzende
Der Redner, den Stegner neben Haßelmann meinte, war der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese. Er sagte mit Blick auf Brosius-Gersorf: „Wir haben in den letzten Tagen eine Hetzkampagne erlebt gegen eine hoch angesehene Staatsrechtlerin, die über jeden Zweifel erhaben ist.“ Im Übrigen habe er sich nicht vorstellen können, dass es um das Bundesverfassungsgericht mal eine derartige Auseinandersetzung geben könnte wie um die höchsten Gerichte in den USA oder in Polen. Wiese betonte: „Das betrübt mich zutiefst.“ Die SPD jedenfalls habe zu den gemeinsamen Verabredungen in der Koalition gestanden. „Ich erwarte, dass künftig auch andere stehen.“
Gemeint hat er damit vor allem die Abstimmung, den Familiennachzug auszusetzen. Das ging vielen Sozialdemokraten gegen die Überzeugung, fand aber dennoch eine Mehrheit.
Stegner sagt kopfschüttelnd: „Das ist ein Debakel. Und die einzigen Gewinner sind die Rechtsradikalen. Wenn wir bei so kleinen Dingen schon anfangen zu scheitern, dann ist das Schiff in schwerer See, und zwar ziemlich schnell.“
Am Nachmittag kommt die Union noch einmal zu einer Sitzung zusammen. Spahn sagt dort nach Teilnehmerangaben, er habe alles getan, um eine Mehrheit zu sichern. Mit den Plagiatsvorwürfen habe sich eine neue Lage ergeben. Er spricht von Stabilität durch die Union in den vergangenen Wochen. Von Reue oder Selbstzweifeln Spahns wird nicht berichtet. Der Applaus sei deutlich gewesen.
Symptomatisch war, dass nach der Entscheidung über die Verschiebung aller drei Wahlen im Foyer des Reichstagsgebäudes nur noch Spitzenvertreter der AfD auftauchten, namentlich Alice Weidel, Tino Chrupalla und Beatrix von Storch. Sie kosteten ihren Triumph sichtbar aus, dass diese „knalllinke Richterin” (Weidel über Brosius-Gersdorf) nicht gewählt wurde. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Bernd Baumann, hatte schon während der Sitzung seine Erwartung ausgedrückt. Den Koalitionären rief er zu: „Wir wollen nicht, dass Sie die Sommerpause nutzen, um sich zu reorganisieren.“
Deutlicher kann man seine Hoffnung auf einen Kollaps der Regierung nicht zum Ausdruck bringen.