Deutschland, die blockierte Republik

Immer wieder werden in der Region Straßen und Schienen lahmgelegt – ob von Bauern, Klimaaktivisten oder Lokführern.
Quelle: imago/Future Image/Seeliger/Heine/RND-Montage Weinert
Es ist ein putziges Foto, und es steht sinnbildlich für die emotionale Verwirrung im Land: Da blockiert eine Aktivistin der Letzten Generation die Straße, in den Händen ein Schild: „Wir dürfen das! Wir haben einen Traktor“. Daneben: ein Klimaschützer auf einem Spielzeugtrecker. Die lakonische Botschaft: Für die Angst um günstigen Agrardiesel habt ihr also Verständnis, aber nicht für unsere Angst um den Planeten. Ein Genremix der aktuellen Gegenkulturen. Man bekommt als Betrachter schnell einen Knoten im Kopf. Und die Satireseite „Postillon“ meldet gar keck: „Vorbild Bauernproteste: Lokführer blockieren Autobahnen mit ihren Zügen.“
Ein Hauch von Lockdown weht durchs Land
Was eint Bauern, Klimaretter und Lokführer? Sie alle wählen zur Durchsetzung ihrer Interessen die Blockade. Stillstand. Leere Bahnsteige. Genervte Pendler. Ein Hauch von Lockdown weht durchs Land. Eine Nation im Klammergriff von Lobbyinteressen.
Es wäre verlockend, die Schuld für den Frust im Stau im Egotrip eines paranoiden Gewerkschaftsführers zu suchen, der sich aus politischer Existenzangst darin gefällt, der Republik die Bremsklötze anzulegen. Ebenso wäre es reizvoll, die Starrsinnigkeit von Landwirten zu beklagen, die gestrigen Vergünstigungen hinterhertrauern. Die Ursache für die mehrspurige Misere aber liegt nicht in Größenwahn oder Gier, sondern vorrangig im handwerklichen Dilettantismus der Ampelregierung.
Politik besteht nicht nur aus Exceltabellen
Es geht den Bauern ja nicht um ein paar Tausend Euro pro Hof mehr oder weniger. Es geht um ein Gefühl. Es ist das Gefühl, ohne eigenes Verschulden die groben Schnitzer einer amateurhaften Politik ausbaden zu müssen. Da betreibt eine gerichtlich zum Sparen gezwungene Regierung in einer Nachtsitzung ein bisschen Zahlenjonglage. Und wenn sich angesichts der halbgaren Notmaßnahmen Protest regt, rudert sie verwirrt zurück und entscheidet, statt den Bauern dann eben den Fischern ans Leder zu gehen, denn Schiffe können keine Straßen blockieren. Das ist, mit Verlaub, politische Irrlichterei.
Politik besteht nicht nur aus Exceltabellen. Sie muss sich erklären, muss Menschen mitnehmen, die großen Leitlinien skizzieren. Das versäumt sie seit Monaten. Und das erst schürt Zorn und Argwohn. Und die gefährlichste Lobby im Land sind weder die Lokführer noch die Landwirte oder die „Klimakleber“, es sind die rechten Kräfte, die sich den brodelnden Unmut zu Nutze zu machen versuchen und unter Mitwirkung von AfD-Vertretern zum Beispiel heimlich Masterpläne zur Vertreibung von Millionen herbeispintisieren.
Wir erleben hilfloses Herumgeflicke
Aber es ist zu früh für präfaschistisches Untergangsgeraune. Wagen wir stattdessen ein bisschen Zuversicht. Ja, Deutschland ist auf der Suche nach einem neuen Selbst. Das Land steckt mitten in einem notwendigen, aber verheerend schlecht gemanagten Transformationsprozess. Dieser braucht Zeit. Gewohnheitsrechte stehen auf dem Spiel. Neues Denken droht. Da ist es normal, dass es gesellschaftlich knirscht mit Blockaden und Lobbygebrüll. Die hypernervöse Gegenwart hält Uneindeutiges kaum noch aus. Wandel schmerzt.

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Aber selbstverständlich hat das Land das Zeug, die emotionale, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Erneuerung mittelfristig zu schaffen. Die Tugenden der Stunde sind Geduld und kollektives Bemühen um Zuversicht. Das ist nicht ganz einfach nach zwei Stunden im Stau, aber es ist möglich. Es bräuchte bloß jemanden, der die großen Leitlinien skizziert. Der das Ziel kennt. Der nicht nur den Bauern sorgfältig erklärt, wie genau die Transformationen langfristig gelingen kann. Stattdessen erleben wir hilfloses Herumgeflicke.
Es wäre hilfreich, wenn Olaf Scholz ab und an den Eindruck erwecken würde, er sei an den aktuellen Vorgängen in diesem Land interessiert. Statt zu moderieren, erklären, trösten und gestalten aber regiert er mit merkelscher Gleichmut. Der Unterschied: Anders als sie hat er seinen Laden nicht im Griff. Und genau das ist es, was die Deutschen aktuell nervt und beunruhigt – viel mehr als ein paar Traktoren, Klimakleber oder ausfallende Züge.