Die unvorhergesehene Wende des Zentralrats der Juden in Deutschland

„... dass wir Judentum so leben können, wie wir es verstehen, nicht wie andere es gerne hätten“

Der Zentralrat der Juden hat von offenem Kippa-Tragen in Deutschland abgeraten.

Der Zentralrat der Juden hat von offenem Kippa-Tragen in Deutschland abgeraten.

Berlin. Eigentlich waren sie am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main zusammengekommen, um den Exodus zu organisieren - jüdische Delegierte aus den Resten ihrer Gemeinden in den vier Besatzungszonen in der Bundesrepublik und der DDR. Es war fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der von den deutschen Nationalsozialisten geplanten und durchgeführten Shoa.

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15.000 Gemeindemitglieder gab es damals noch, von ehemals 500.000 im Jahr 1933. Dazu kamen rund 200.000 Juden aus Osteuropa, die nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren konnten oder wollten. Die an jenem Julitag vor 75 Jahren in der Mainmetropole anwesenden Jüdinnen und Juden gründeten den Zentralrat der Juden in Deutschland als Interessenvertretung während der Übergangszeit bis zur endgültigen Ausreise. Alle, so die Vorstellung, werden Deutschland verlassen.

Insofern verstanden sich die jüdischen Gemeinden in diesen Jahren als Abbauhelfer, als „Gemeinden in Abwicklung“. Glücklicherweise für Deutschland und kaum erklärbar für viele jüdische Gläubige weltweit fanden sich in den Gemeinden Menschen, die der mörderischen Vergangenheit und den fortlaufenden Anfeindungen im Land die Stirn boten. Mehr noch und erstaunlich: Sie sahen in beiden deutschen Staaten eine neue Lebensperspektive. Sie packten ihre Koffer wieder aus.

Juden flohen aus der DDR

In der Bundesrepublik versammelten sich in den Nachkriegsjahren 26.000 Mitglieder in etwa 50 Gemeinden. In der DDR war die Zahl der Jüdinnen und Juden überschaubar - 500 lebten nach dem Krieg in fünf Gemeinden. Im sowjetischen Einflussbereich unter Machthaber Stalin galten Juden als „Konterrevolutionäre“ und „zionistische Agenten“. Viele Juden flohen aufgrund der Repression aus der DDR in die Bundesrepublik.

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Der Zentralrat musste also umdenken und sich als echte Interessenvertretung der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden aufstellen. Und das tat er. Im Laufe des 75-jährigen Bestehens des Zentralrats konnte die Organisation bis heute streitbare Geister, unerbittliche Mahner und engagierte Versöhner in sich vereinen.

Zu den prägendsten Persönlichkeiten zählten Heinz Galinski (1912 bis 1992), der zweimal als Vorsitzender des Zentralrats amtierte, Werner Nachmann, der von 1969 bis zu seinem Tod 1988 das Amt innehatte, Ignatz Bubis (1927 bis 1992), der den legendären Satz „Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ prägte, und Charlotte Knobloch als erste Vorsitzende des Zentralrats.

Heinz Galinski 1991 in einer RTL-Talkshow.

Heinz Galinski 1991 in einer RTL-Talkshow.

Der Berliner Galinski hatte Auschwitz, Buchenwald und das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt, als er 1954 der erste Vorsitzende des Zentralrats wurde. Seine erste Ehefrau und seine Mutter wurden in Auschwitz ermordet. Im Sommer des Jahres 1975 verübten in Berlin Unbekannte einen Paketbombenanschlag auf Galinski, der unverletzt entkam. 1998 wurde das Grab Galinskis auf dem Jüdischen Friedhof im Berliner Westend zweimal das Ziel von Sprengstoffanschlägen.

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Der Historiker und Rabbiner Andreas Nachama schrieb über Galinski in der „Jüdischen Allgemeinen“: „Wenn von ihm die Rede war, dann klang darin immer ein Stück Furcht mit: Er sprach in aller Öffentlichkeit aus, was andere hinter vorgehaltener Hand, aber niemals einem Nichtjuden und schon gar nicht in der Öffentlichkeit sagen würden.“

Nach dem Holocaust
 
Jüdinnen und Juden weltweit

Die jüdischen Gemeinden in Deutschland haben derzeit etwa 100.000 Mitglieder. Nach Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind seit 1989 insgesamt rund 200.000 Menschen jüdischer Abstammung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert. Durch den Zuzug von Israelis nach Deutschland in den vergangenen Jahren leben allein in Berlin zeitweilig oder längerfristig mehrere tausend jüdische Menschen. Nach einer Erhebung des Jewish People Policy Institute (JPPI) von 2015 leben weltweit rund 14,2 Millionen Juden. Vor der Schoa waren es etwa 16,6 Millionen.

Galinski redete stets deutlich über den erstarkenden Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Anti-Israelismus an, erinnert sich Nachama. „Er las ohne Furcht auch anwesenden Politikern die Leviten und schaffte es, immer wieder gute Reden zu halten, nicht wie einige andere jüdische Honoratioren sich bei seinen Zuhörern anzubiedern, sondern die auf den Nägeln brennenden Probleme beim Namen zu nennen.“

29 Millionen D-Mark veruntreut

Werner Nachmann kehrte nach seiner Emigration nach Frankreich 1945 in seine Heimatstadt Karlsruhe zurück. Der erste Präsident des jüdischen Turn- und Sportverbands Makkabi Deutschland gilt als wichtiger Wegbereiter der Annäherung zwischen offiziellen Stellen der Bundesrepublik und jüdischen Organisationen. Dafür wurde er vielfach geehrt, in jüdischen Kreisen aber auch scharf kritisiert. Viele werteten Nachmanns Bemühungen um Aussöhnung als Mangel an Distanz gegenüber Deutschland.

Nach dem Tod von Werner Nachmann wurde bekannt, dass er Millionen D-Mark veruntreut hatte.

Nach dem Tod von Werner Nachmann wurde bekannt, dass er Millionen D-Mark veruntreut hatte.

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Nachmann machte nach seinem Tod 1988 Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass der Altmetall-Unternehmer von 1981 bis 1987 insgesamt über 29 Millionen DM an Zinserträgen von Wiedergutmachung-Zahlungen der Bundesregierung sowie Gemeindegeldern veruntreut hatte. Drei Viertel der Summe tauchten auf Konten seiner insolventen Firmen auf. Wo der Rest blieb, ist unbekannt. Diese Umstände nährten Gerüchte, nach denen Nachmann keines natürlichen Todes gestorben sein soll. 2018 entschied die Staatsanwaltschaft Stuttgart, kein Ermittlungsverfahren in dieser Sache anzustrengen.

Sein Nachfolger Ignatz Bubis stammte aus dem polnischen Dęblin und ging nach seiner Befreiung aus einem Zwangsarbeiterlager 1945 nach Deutschland. In den frühen 1970-er Jahren geriet er in Frankfurt am Main als Bauunternehmer ins Fadenkreuz von Hausbesetzern. Er wurde als Spekulant bezeichnet, attackiert und bedroht. FDP-Mann Bubis verstand dies als absichtliches Anprangern des „jüdischen Buhmanns“.

Ignatz Bubis wurde als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht. Er lehnte diese Idee ab.

Ignatz Bubis wurde als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht. Er lehnte diese Idee ab.

Als Nachfolger von Heinz Galinski entwickelte Bubis als Präsident des Zentralrats ab 1992 eine große öffentliche Präsenz. Er vertrat die jüdischen Interessen pragmatisch und konziliant, analysierte der Historiker Wolfgang Benz 2011. Bubis engagierte sich für Geflüchtete und stemmte sich gegen Änderungen beim Asylrecht. Als er 1993 für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht wurde, lehnte er eine Kandidatur ab. Für ein jüdisches Staatsoberhaupt sei Deutschland noch nicht reif, sagte Bubis.

„Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden, weghaben.

Ignatz Bubis

früherer Präsident des Zentralrats der Juden

Einen Monat vor seinem Tod äußerte sich Bubis resigniert über seine Amtszeit: „Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden, weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du es, dass die Menschen anders übereinander denken, anders miteinander umgehen. Aber, nein, ich habe fast nichts bewegt.“

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Die 1932 geborene Münchnerin Charlotte Knobloch folgte 2006 Paul Spiegel als erste Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie konnte die Shoa überleben, weil eine katholische Familie sie als angeblich uneheliches Kind aufgenommen hatte. Knobloch, die ursprünglich mit ihrem Mann auswandern wollte, wurde zu einer der am meisten polarisierenden und zugleich angesehensten Figuren an der Spitze des Zentralrats. 2006 wünschte sie sich im Tagesspiegel mehr Patriotismus der Deutschen. „Warum“, fragte sie, „sollen die Deutschen nicht stolz auf ihr Land sein?“.

Charlotte Knobloch 2024 am Rednerpult bei ihrer ersten Vorlesung im Rahmen der Heinrich-Heine-Gastprofessur im Audimax Düsseldorf.

Charlotte Knobloch 2024 am Rednerpult bei ihrer ersten Vorlesung im Rahmen der Heinrich-Heine-Gastprofessur im Audimax Düsseldorf.

In der immer wieder aufflammenden Beschneidungsdebatte sah Knobloch puren Antisemitismus. „Wir wollen das Beste für unsere Kinder, wenn wir sie in den Bund mit Gott einführen und in unserem Glauben verwurzeln“, schrieb sie 2012 in der Jüdischen Allgemeinen. „Ich fordere, dass wir Judentum so leben können, wie wir es verstehen, nicht wie andere es gerne hätten.“ Kontroverse Positionen bezog sie immer wieder zum Islam. 2024 sagte sie, dass „die Grenze zum Antisemitismus rasch überschreitender Israelhass“ in „muslimischen Milieus“ schlichtweg zur Sozialisierung gehöre.

Knobloch für Generationswechsel

Ungewöhnlich auch: Charlotte Knobloch erklärte 2010 nach vier Jahren Amtszeit, dass sie den Weg für einen Generationswechsel an der Spitze des Zentralrats freimachen wolle. Ihr Nachfolger wurde der damals 60-jährige Dieter Graumann.

Josef Schuster ist seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Josef Schuster ist seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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Heute ist der Zentralrat Interessenverband von etwa 100.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Präsident ist seit 2014 der 71-jährige Josef Schuster. Er sagt: „Wir sind seit 75 Jahren im Einsatz für die Menschen in Deutschland, für Jüdinnen und Juden im Besonderen, aber wir verteidigen die demokratischen Werte für alle Bürgerinnen und Bürger.“ Der Zentralrat trete für eine Gemeinschaft ein, die engagiert sei, die füreinander einstehe „und die ihren Platz in der Gesellschaft selbst bestimmt“. Die Botschaft des Zentralrats nach 75 Jahren ist deutlich: „Wir bleiben“.

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